Heute am 5. März 2016 ist ‘Tag der Archive’. Das Stadtarchiv Mülheim an der Ruhr – genauer ‘Haus der Stadtgeschichte’ – hat zum Rundgang eingeladen.
Mit unseren zwei Archivführern – Jens Roepstorff und Klaus Wagner – bahnt sich unsere Gruppe von zwölf Teilnehmern ihren Weg durch die geheimnisvolle Welt eines Archivs. Insgesamt sind sechs Mitarbeiter des Stadtarchivs heute zugange, um interessierten Besuchern die Geheimnisse näherzubringen. Zu Recht, uns kommt nämlich auch eine große Gruppe entgegen.
In einem Vortragsraum im 2. OG gibt’s die ersten Infos: das Stadtarchiv teilt sich seit 2013 sein aktuelles Domizil mit der Mülheimer Musikschule, letztere nimmt etwa 60% der Fläche in Anspruch. Jetzt untergebracht in der früheren Mülheimer Augenklinik (1907-1985) hatten die bisherigen drei Etagen an der Aktienstraße schlicht nicht mehr ausgereicht. Auch wird so ein Archiv für ca. 30 Jahre geplant, diese Zeit war ebenfalls überschritten. Finanziert wurde der Umbau durch die Leonard-Stinnes-Stiftung, die auch Eigentümer des Gebäudes ist und vorheriger Betreiber der Augenklinik war.
Unser Grüppchen tapert weiter in den Lesesaal. Bis hierhin kommt jeder interessierte Leser übrigens auch so und kann hier Einblick nehmen in alle Werke des Archivs. Was viele Besucher übrigens erst nach und nach erstaunt begreifen: es gibt hier nur Originale. Später erfahren wir auch, dass das Stadtarchiv Mülheim erst 1972 gegründet wurde, hervorgegangen aus der Abteilung Heimatbücherei der Stadtbibliothek. Viele der Originale waren früher eben da beheimatet.
Für diesen Tag haben die Archivare uns einen kleinen Querschnitt für’s Auge arrangiert: neben einer alten Stadtkarte sind historische Fotos z.B. des städtischen Gymnasiallehrkörpers sehen. Daneben liegt eine Ausgabe der ersten NRZ nach Ende des 2. Weltkriegs (13.07.1946) und eine noch weit ältere Ausgabe der Mülheimer Zeitung vom 5.3.1916. Wir stehen amüsiert vor Werbeanzeigen, die auf den Tag genau 100 Jahre auf dem Buckel haben!
Beeindruckt blicke ich auf die urkundliche Erwähnung der Clärenore Stinnes, die Hochzeit von Josef Stinnes und den Tod von Karl Ziegler. Letzterer könnte dem interessierten Leser als Nobelpreisträger der Chemie, Wegbereiter der modernen Kunststoffherstellungen sowie jahrelanger Leiter des hiesigen Max-Planck-Instituts für Kohlenforschung bekannt sein. Die Familie Stinnes kennt Ihr ja sicher ohnehin.
Seit geraumer Zeit ist gesetzlich vorgeschrieben, dass die Standesämter ihre (papiernen) Unterlagen an die jeweilige Archive abzugeben haben. So kommt jedes Jahr ein weiterer Jahrgang hinzu, aktuell stehen die Geburten bis 1905 im Stadtarchiv. Im Standesamtsregister steht denn auch Jahrgang neben Jahrgang. Wie das mit elektronischer Erfassung weitergeht, ist sicher auch mal ein spannender Aspekt.
Im Zeitungsarchiv wird hübsch jeder Monat der hiesigen Tageszeitung aufgebunden.
Hier finden sich jedoch auch in deutscher Akribie die dunklen Seiten der Geschichte aufgeführt. Die in Mülheim lebende Juliane Tobias wurde 1941 deportiert – in ihrem Karteikärtchen ist das mit einer “Umsiedlung nach Riga” dokumentiert. Die Mülheimer Stolpersteine erinnern auch sie und ihr Schicksal.
Unfreiwillig komische Einblicke in den Bundestagswahlkampf 1976 erhalten wir mit Plakaten, die sich hier ihre DIN-A0-Behausungen mit Bauunterlagen für öffentliche Gebäude teilen.
Eine Etage tiefer stehen die Aktenschränke noch viel dichter. Hier liegen die Akten der Ämter. Wusstet Ihr, dass früher Akten zusammengenäht wurden? Aktenordner gab es ja noch nicht! Unsere Archivare zeigen uns nun z.B. eine Akte der Ehrenbürgerschaft Thyssens.
Einen Archivraum weiter bemerken wir die Änderung im Odeur der Luft. Hier liegen die Archivalien aus privaten und wirtschaftlichen Hinterlassenschaften. Eine vom Mülheimer Künstler Otto Pankok gemalte Osterkarte für seinen Freund Robert Reinen (seine Sammlung bestreitet weite Teile des Heimatmuseums) wird uns stolz präsentiert, ebenso wie das Filmprogramm vom ‘neuen’ Löwenhof 1950. Letzteres Exemplar gelang übrigens nach einem sehr erfolgreichen Sachspendenaufruf an die Mülheimer Bevölkerung wie viele andere schöne Stücke in den Besitz des Archivs.
Nun wird es Zeit für das älteste Stück im Stadtarchiv. Wir blicken auf eine Art übergroßen Pizzakarton, der ein Kleinod von 1221 präsentiert (im Karton drapiert, damit alles schön sicher fixiert ist). Die Urkunde auf Pergament zeigt in Latein eine Schenkung eines Stück Waldes an das Kloster Saarn, die auf ein Ansinnen des Erzbischofs von Köln zurückgeht. Sie belegt die Zeit, als Mülheim noch keine Stadt war, aber Territorien aus der Herrschaft derer zu Broich, Styrum und eben des Kloster Saarns ausmachte.
Wiewohl hier einige Urkunden mehr lagern, spielen diese im Betrieb des Archivs eine eher untergeordnete Rolle. Viele Mülheimer kommen z.B. eher hierhin, um Familienforschung zu betreiben oder auch mal in eine der alten Schülerlisten blicken zu können, die von den Schulen i.d.R. übernommen werden. Wer was über seinen Nachbarn erfahren will: nach dem deutschen Archivgesetz gibt es strenge Auflagen zum Personenschutz. 100 Jahre nach der Geburt oder 10 Jahre nach dem Tod kann man Einsicht bekommen. ;-)
Unsere Runde ist nach ca. einer Stunde beendet und ich fand es noch deutlich interessanter als vorher vermutet. Vielen Dank an die Archiv-Crew der Stadt Mülheim für die Führung und die tolle Vorab-Auswahl der gezeigten Werke. Ich wünsche viele interessante Neuzugänge in den nächsten Jahren!
Es gibt hier übrigens auch noch ein schönes Interview der WAZ mit dem Stadtarchiv-Leiter Dr. Kai Rawe.
Sehr schöne und anschauliche Beschreibung der Archivführung! Ich wünsche dem Beitrag zahlreiche Leser!
Lieber Herr Roepstorff, vielen Dank für das Lob! Bestellen Sie den Kollegen ebenfalls ein Dankeschön, das Archivteam hat das echt toll gemacht!